Warum der Ton den Text macht

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Wiener Konzerthaus und warten sehnsuchtsvoll auf den letzten Satz von Beethovens 9. Sinfonie. Jeder kennt diese berühmte Melodie, die Schillers „Ode an die Freude“ mit den Noten E E F G G F E D C C D E E D D so majestätisch vertont.

Erwartungsvolle Stille im Saal.

Der Maestro hebt seinen Taktstock, die Bläser setzen ein. Langsam lichtet sich der dissonante Morgennebel, als endlich die Streicher mit sonnenklaren Dur-Klängen des allseits vertrauten Themas die Moll-Schleier lichten. Und dann ……. spielt das Orchester plötzlich A statt G!

Unruhe wandert durch die vollbesetzten Reihen. Irritierte Blicke, verlegenes Räuspern, nervöses Tuscheln. Die Ersten gehen, und nach weniger als fünf Minuten sitzt das Orchester alleine im prunkvollen Saal.

Was ist passiert?

Sind die Zuhörerinnen und Zuhörer etwa nicht bereit für ein kleines bisschen künstlerische Freiheit, fragt der Freigeist. Nein, sind sie nicht, antwortet die Ästhetin. Und man muss wahrlich kein Kenner des Quintenzirkels sein, um die ohrenscheinliche Kakophonie zu erkennen: A ist an dieser Stelle, in diesem Kontext, schlichtweg der falsche Ton. Weil er jeglicher Erwartungshaltung der Zuhörerschaft widerspricht. Weil er das ersehnte Thema ruiniert. Aber vor allem: weil er Stimmung, Wirkung und damit den Genuss des Werkes zerstört.

Das ABC der Musik, das CDE der Sprache.

Was der Musik die Note, ist der Sprache das Wort. Ein guter Text ist immer auch eine Komposition, in der jede Note, jedes Wort, einen tieferen Sinn mit nur einem Ziel hat: die Menschen zu berühren und für die Sache zu begeistern. Und weil Sprache (zumindest für mich) auch Musik ist und Musik Sprache, verhält es sich in einem Text mit falsch platzierten Wörtern genauso wie mit falsch platzierten Noten in einer Symphonie.

The Sound of Text

Nur der stimmige „Sound“ eines Textes fesselt Ihre Leserinnen und Leser. Nur die sorgsam ausgewählte Tonalität macht aus einer nüchternen Information klingenden Inhalt – dank wohl temperierter Adjektive, rhythmischer Verben und symphonischer Substantive. Kurz gesagt: Das Wortfeld macht die Musik. Ob Lento, Moderato oder Presto. Die Texterin – Komponistin Ihres Textes!

Und wenn Sie sich fragen, warum ich die Musik als absolute Metapher gewählt habe, so liegt das daran, dass ich in einem anderen Leben Musikerin bin. Doch davon ein anderes Mal.