#Prosa: „Rühm war da“

Was macht die Wortverliebte, um ihr Wortfeld zu erweitern? Écriture automatique! Grenzenloses Schreiben, ohne Syntaxdogmen oder Interpunktionskonventionen. Fließende Prosa, frei und ungeniert, jenseits von Zeichenlängen und Zielgruppen. Viel Punkt, wenig Komma, kein Absatz; dafür experimentell und aus Liebe zu jenen Sprachrevoluzzer:innen, die mich schon immer am meisten inspiriert haben.

Gerhard Rühm und Lina Bibaric in Wien
Am Wiener Flughafen mit Gerhard Rühm

Gerhard Rühm, Jahrgang 1930, Schriftsteller, Komponist, bildender Künstler, österreichisches Enfant Terrible nach 1945 und Mitbegründer der literaturrevolutionären WIENER GRUPPE mit Oswald Wiener, Friedrich Achleitner und Konrad Bayer, ist einer von ihnen. Ihm ist der folgende – experimentelle – Text gewidmet, den ich nach dem Besuch eines durch und durch ungewöhnlichen Rühm-Symposiums an einem heißen Sommertag in Wien geschrieben habe. Und weil heute mein Geburtstag ist, gibt’s den in der Anthologie „Stimmen vom permanenten Jetlag“ erschienenen Text hier! Na, wer traut sich?


RÜHM WAR DA

[der schiefe barhocker gähnt]

mittwoch, halbfinale, 30 grad. 16 Uhr 30, rühm ist da. ins einbaumöbel, heimspiel. plakat vor der tür: wegen wasserrohrbruch veranstaltung verlegt. tür geht auf, altes plakat. rühm ist da. andere auch. 10, 15 studenten. anfang zwanzig, söckchen im sommerschuh, ungezeichnete gesichter, sonnenbrillen, aktentaschen, rote bäckchen; demut. rühm ist da. hellblaues hemd, oberster knopf offen. neben ihm, die kenn ich doch!, rosi rösisch, komparatistik, besenkammer, uni bonn ……. ach isse garnich ….. uni halt ….. die komparatistikdozentin. neben ihr ein mann, ein student? ein dozent? graues haar, silberrandbrille, sportlich braun, klettertyp, auch traveler, nicht interrail, gehoben. vielleicht 38 oder 63, manche bleiben ewig alt. optisch belesen. ’n intellektueller halt, das soll man sehn. erstmal was trinken. weißweinspritzer groß, bitte. puh, heiß hier. durst. ich barhocker, die anderen sofa. tag, herr rühm! ah, guten tag. neue frisur? hab sie erst gar nicht erkannt. letztes mal trug ich kappe. ah, deswegen. vom morgenja, ich weiß. es geht los. bitte aufrücken, kommen sie näher! rosi rösisch, einleitung. willkommen zum symposium, vielen dank, dass sie da sind, herr rühm, habe die ehre [zu ihm], wer hat fragen [zu ihnen]? reclamhefte raus. super blick hier oben. weißweinspritzer. arme auf theke. handy auch, parkuhr läuft. puh, heiß hier.vor mir ein fleißiger, student. schlau, bestimmt. dreimalschlau, eigentlich. er weiß was, das zeigt er. geordnete papierordner, texte mit textmarker, gelb, pink, blau. viele blätter, kopien konkreter. ordentlich sortiert, trennlaschen, schubladen. der mann weiß was, ihr werdet schon sehen. rühm wird konkret. konkrete poesie. der apfel aus apfel ist nicht konkret. er ist formalistisch! der schlaue student will recht. warum ziert er dann den titel des reclambandes über konkrete poesie? der apfel, nicht rühm. das ist eine gute frage, er gehört da nicht hin. er ist nicht konkret. der apfel ist formalistisch, weil er aus apfel besteht. bestünde er aus birne, wäre er konkret. nicht konkret, keine subversion. formalistisch. sie haben recht [zum schlauen studenten] der apfel gehört da nicht hin. ein konkretes gedicht besteht aus konkreten wörtern. denotationen, keine konnotationen. das wort und nichts als das wort. keine metaphern, die sind nicht konkret. das wort ist das wort ist das wort ist das wort. der schweizer dichter von dem ich den namen nicht mehr weiß kann keinen konkreten text mit dem wort geheimnis schreiben. geheimnis ist nicht konkret, das ist unsinn. geheimnis ist alles. nicht konkret, unsinn. rosi vermeidet zu gähnen, nickt anerkennend. nicht konkret, genau …weitere fragen? trinken, betrinken, betrunken langsam. rühm erinnert sich. art klub, wien. mit konkrad bayer auf der bühne einen flügel zertrümmert. happening vor dem happening, das wort gab es noch nicht. warum nicht, eigentlich? das war lebensgefährlich, denn eine herauskatapultierende seite kann einem tödliche verletzungen zufügen. das wusste ich nicht. wir haben provoziert damals. das wollten wir nicht. wir wollten neue sätze. die leute nicht. wir waren unerhört. von den leuten, vor der kritik. so mit sprache umzugehen, das gehörte sich nicht. das war uns egal, wir waren wir. es war unsere sprache. eine dünne studentin: wollten sie damals provozieren? der intellektuelle traveler denkt rhetorisch, leider laut. welchen text herr rühm haben sie im jahre 1971 zusammen mit konrad bayer undsoweiter gemacht und bei der avantgardezeitschrift von dem verlag [husten] von dem und dem publiziert weil der eine schriftsteller der ja ein freund von ihnen war gute kontakte zu dem einen verleger hatte der eigentlich auch schriftsteller war und der weil er sie verlegt hat aus dem verlag geschmissen wurde? er meint thomas fritsch. unbequemer barhocker. volle konzentration beim traveler [er sieht mich. er weiß, dass ich da bin. ich weiß was. das weiß er jetzt!]. rühm weiß die antwort. der traveler ist befriedigt. der schiefe barhocker gähnt. das glas leert sich. noch einen? es ist 18 uhr, gleich fußball, dann bier, besser nicht. die sprache war alt. rühm zerlegt die sprache. bayer zerlegt die sprache. achleitner zerlegt die sprache. wiener zerlegt die sprache. artmann dichtet dialekt. und hat erfolg. den will er nicht haben. erfolg begrenzt freiheit. sprache ist freiheit. sprache ist wandel. sprache ist prozess. sprache ist zerstörung. sprache ist erneuerung. rühm übergrenzt. keine grenzen. freie sprache. sprache ist musik. musik ist sprache. sprache ist rühm. rühm ist komponist: das ABC der musik, das CDE der sprache. rühm ist sprache. die sprache ist neu. eine frau betritt den raum, zu spät. nicht gefunden, das lokal. kommen sie herein, junge frau. bitte nehmen sie platz. sie platzt weit hinten, auf dem leeren sofa. kommen sie doch näher, ich möchte sie kennenlernen. rühm überspringt, das wort hat das wort. frau weiter vorne. frau hat das wort. war im schönbergchor, in den siebzigern. ist die freundin der ehemaligen freundin eines freundes von rühm. dichter, wie rühm. das wort wechselt, das interesse auch. rühms vorbilder – joyce, gertrude stein, majakowsi. manfred borchert, abgott. schwer zu bekommen nach dem krieg. dada inspirierte. aber nicht zu sehr, denn kunst bleibt kunst. zerstörung der sprache, nicht der kunst. der weißweinspritzer wirkt. auf die theke gestützt, auf dem barhocker. ganz schön heiß hier. durst,, noch einen? besser nicht – der fußball, das bier. rösisch will fragen. nicht die eigenen, sie hat keine. die runde schwitzt und schweigt. aber man will da sein, schließlich ist rühm da! ich bin froh, dass die uni vorbei ist. das konkrete reclamheft macht die runde, das mit dem verbotenen apfel. wissend wahrgenommen, wortlos weitergereicht. der schlaue student braucht länger. intonation ist bedeutung. die sprache der sprache. der ton macht das wort. der text braucht den ton. rosi braucht wissen. der traveler weiß arno schmidt: zettels traum ist ja bei dem und dem ich glaub es war hans mayer nicht so akzeptiert wegen der syntax und überhaupt der dativ dass man den jetzt statt des genitiv s so oft verwendet ist ja auch so ein unding. wen interessiert’s. weißweinspritzer. vorsicht, kopf klarhalten! langsam trinken, eine rauchen. keiner raucht, ok! rühm mag kein scharfes s. das gehört nicht zum alphabet. deswegen benutzt er doppel s. er schreibt, wie man spricht. miljon’n statt millionen. das en am ende spricht man nicht. daher ist es überflüssig. er hat recht. der vor mir weiß was. schlauer student, und ordentlich. er verweist auf den schweizer von dem ich den namen nicht mehr weiß. rühm bestätigt. der schlaue student ist zufrieden. die dozentin für komparatistik weiß auch viel. sie zeigt es nur nicht so. nicht nur nicht heute, sondern auch sonst nicht so. ist aber hochinteressiert. an rühm, an der sprache. das will sie zeigen. sie schaut auf die uhr. rühms kölner apothekenjutebeutel ist voller rühms. die wollen raus. und sollen – signiert, 5 euro. ich zücke das portemonnaie, die studentinnen nicht. ich schon, und nehme zwei für zehn. ER – wird sich freuen, SIE auch. auch ich, im nachhinein. rosi mahnt, die zeit. nicht mehr viel, noch fragen? rühm knöpft den obersten knopf zu. und wieder auf. dann wieder zu. seltsam, wie lange das gehirn manchmal braucht um eine einfache entscheidung zu treffen. erleichertes lachen. der traveler laut, rosi mit. es ist schon spät, man will heim. vielen dank und auf wiedersehen. die studentinnen bedanken sich artig. und gehen. rühm bleibt. der traveler auch. rosi zögert, es ist schon spät. aber rühm ist da. die schönbergsängerin wagt sich vor. vor rühm. haben sie eine emailadresse? vom barhocker lachen. rühm hat fax. lachen vom barhocker. nicht aus-, sondern über. die freundin von der ehemaligen freundin des freundes von rühm fragt nach anderen kommunikationwegen. telefonnummern werden getauscht. aufbruchsstimmung. im traveler braut sich was zusammen. er traut sich was. jetzt oder nie. gleich sag ich’s moment! [peinliche pause] herr rühm darf ich sie einladen? einmal im leben will er gerhard rühm einladen. das will er allen erzählen. darum fragt er. rühm muss weg. noch packen, morgen früh abflug. nach köln? frag ich. er: ja, nach köln. wie lange waren sie in wien? bin gestern gekommen. grüße an die heimat. mach ich. traveler ratlos. überspringt [eigentlich: enttäuscht], zappelt, raucht. rühm mag keinen rauch. eigentlich auch keinen traveler. das wusste der traveler nicht. jetzt weiß er mehr.

er war da, der rühm.

Text: © Lina Bibaric

Fotos Rühm: © Lina Bibaric


Gerhard Rühm im Interview mit Lina

Für das österreichische Kulturmagazin DER MORGEN habe ich anlässlich der Verleihung des Golden Ehrenzeichens für Verdienste um das Land Wien folgendes Interview mit Gerhard Rühm geführt.