Haiku: In der Kürze liegt die Kunst

Hai … what?! Keine Angst, gemeint ist hier weniger ein gefürchteter Meeresräuber als vielmehr ein beliebtes japanisches Kurzgedicht, das philosophische Tiefe in nur drei kurzen Zeilen bildhaft auf den Punkt bringt.

Entstanden im späten 17. Jahrhundert im Land der aufgehenden Sonne, brauchte es im deutschsprachigen Abendland noch einige Jahrhunderte, bis zeitgenössische Wortkünstler das semantische Spiel mit der strengen Form für sich entdeckten.

Surrealistisches Manifest von Yvan Goll, 1924

Sonnenaufgang im Abendland

Der Prominenteste unter ihnen war kein geringerer als der große Rainer Maria Rilke, der die cleveren Dreizeiler ob ihrer schlichten Schönheit feierte:

„Kennen Sie die kleine japanische (dreizeilige) Strophe, die „Hai-Kais“ heißt? Die Nouvelle Revue Francaise bringt eben Übertragungen die­ser in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reifen und reinen Gestaltung […]“

Wenig später fand der surrealistische Exilschriftsteller Yvan Goll (1891 – 1950) im Haiku ein Ventil für seine Gefühle von Heimatlosigkeit und Zerissenheit:

Hast du so sehr geweint?
Nach zwanzig Jahren Abschied
Regnet es noch. 

Einfach passieren lassen

Trotz aller oder gerade wegen seiner Formstrenge sind Haikus heutzutage bei Sprachästheten aus aller Welt beliebt. Auch, weil sie einfach passieren, wie die österreichische Schriftstellerin Imma von Bodmershof (1895 – 1982) folgerichtig erkannte:

„[Genau genommen] kann man kann Haiku überhaupt nicht „machen“, sie können einem nur begegnen, es kann nur ein Bild auf einmal durchsichtig werden für das Symbol, und um das allein geht es in meinen Augen.“

Und so sieht es aus, wenn ihr der Haiku begegnet:

Die Kerze verlöscht.
Wie laut ruft die Grille
im dunklen Garten

5/7/5 statt 08/15

Was passiert, wenn eben dieser plötzlich einer deutschsprachigen Sprachenthusiastin mit österreichischer Wahlheimat begegnet, möchte ich Ihnen natürlich nicht vorenthalten.

Deswegen würze ich ab sofort LiNAs BLOG hin und wieder mit einer Prise Haiku made by Lina. Wie das funktioniert? Im Schnelldurchlauf in etwa so: Man nehme ein sprachliches Bild und verteile es vorsichtig auf drei Zeilen, exakt nach Schema 5-7-5. Fünf Silben, sieben Silben, fünf Silben. Vielleicht auch etwas für Ihre Rezeptesammlung?

Linas Haiku // 1

Haiku von Lina Bibaric
Foto + Text: ©  Lina Bibaric ( Türklinke von Mies van der Rohe, aufgenommen in der Bauhaus-Villa Tugendhat in Brünn)

Links zum Thema Haiku:

Deutsche Haiku Gesellschaft

Österreichische Haiku Gesellschaft

Haiku heute