Sonnenaufgang am Schneeberg. Foto von Lina.

Lina dichtet: „An die Hoffnung“

Ich lebe Sprache 24/7. Wenn ich nicht gerade meisterhafte Goldschmieden, künstlerische Holzwerkstätten, kreative Gesundheitsinstitute oder innovative Datenbankspezialisten semantisch inszeniere, lasse ich meine eigenen Sprachwelten entstehen. Alles fließt – aus meinem Kopf direkt in meine Finger. Wie dieses Gedicht, das ich vor vielen Jahren geschrieben habe. Und weil ich finde, dass es so gut in unsere aktuelle Zeit passt, möchte ich es mit Ihnen teilen.

An die Hoffung

Ist es denn wirklich so schwer
mit allem eins zu sein
gemeinsam jenen spurenlosen Weg zu gehen
statt ohne Du und Wir im Blumenkrieg zu überleben
allein
im weiten Feld zu warten

auf den Tag
an dem die Erde nicht mehr bebt

was bitte ist daran so schwer
ein Wort so lang im Kopf herumzudrehen
bevor es achtsam aus gedacht
bescheiden durch den Mund gesiebt
zur Tat
zu unser aller Schicksal wird

es ist doch nicht so schwer
zu lernen was man wissen muss
nicht darf
um falsch Gewusstes zu entblößen
zu unterscheiden zwischen Lug und Trug
statt blind zu glauben
was die anderen frei erfunden gegen Geld

vielleicht
es ist nicht immer leicht
ein Mensch zu sein an Orten ohne Menschlichkeit
in Ungehorsam aufzustehen
wenn manche auf die Straße gehen
zu rennen durch die Wand
aus rohem Unverstand

oder
durch fremde Augen
ohne Angst zu sehen
das andere Leben als einen Teil des Ganzen zu verstehen
zu dem auch Du und Ich gehören

ihr Atmenden im Vakuumsystem!

warum den Tag nicht vor dem Abend loben
statt sich im Jetzt vor Gleich zu fürchten
warum nicht den Geburtstag der Sekunde feiern
in der das Destillat aus Jahren wohnt
warum nicht geben ohne zu bekommen
warum nicht anderen tun was man sich selbst am Liebsten tut

es ist nicht schwer
Althergedachtes neu zu denken
– ein Flügelschlag!
der Anfang anders endet
das unbeschrieben Blatt sich wendet
am Tag
an dem die Erde wieder lebt.


„An die Hoffnung“ von Lina Bibaric, erschienen in der Anthologie „Stimmen vom permanenten Jetlag“, Edition 1bm, Wien 2009

© Lina Bibaric, 2009

Foto: © Lina Bibaric, „Schneeberg Dawn“, 2020

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